Naturgefahren und Ausweichverkehr als Herausforderung
27.10.2024
Die sichere und zuverlässige Verkehrsinfrastruktur ist für die Wirtschaft in Graubünden von grösster Bedeutung. Sie ist eine der wichtigsten Rahmenbedingungen damit Unternehmen in den Tälern Graubündens erfolgreich wirtschaften können. Wir haben mit der Bündner «Verkehrsministerin» Regierungsrätin Carmelia Maissen zur Verkehrsinfrastruktur und Mobilität in Graubünden gesprochen.
Staus mit Ausweichverkehr und Sperrungen aufgrund von Naturgefahren beeinträchtigen die Unternehmen stark und bringen die Arbeit teilweise ganz zum Erliegen. Die Bedeutung des öffentlichen Verkehrs nimmt auch in Graubünden laufend zu. Dieser ist für den Tourismus wie auch für den Pendelverkehr an den Arbeitsorten wichtig.
Carmelia Maissen. wo sehen Sie aktuell die grössten Herausforderungen bei der Verkehrsinfrastruktur?
Einerseits nehmen die Schäden durch Naturgefahren und extreme Wetterereignisse als Folge des Klimawandels zu. Dies führt dazu, dass Kantonsstrassen kurzzeitig nicht verfügbar sind. Andererseits stellen wir fest, dass die Ansprüche sowohl an die Sicherheit als auch an die Verfügbarkeit der Strassenverbindungen gestiegen sind. Diese beiden «gegenläufigen» Tendenzen führen mitunter dazu, dass die Forderungen nach teuren Galerien und Tunnels zunehmen. Eine weitere Herausforderung stellt das erhöhte Verkehrsaufkommen dar. Dieses führt insbesondere an neuralgischen Tagen dazu, dass gerade entlang der Nationalstrassen N13 sowie im Winter auch entlang der Prättigauerstrasse N28 der Verkehr auf das sekundäre Strassennetz ausweicht. Für die betroffenen Wohn- und Siedlungsräume ist dies eine Belastung, die wir verhindern möchten.
Müssen wir Schliessungen aufgrund von Naturereignissen vermehrt in Kauf nehmen oder gibt es Möglichkeiten, solche Ereignisse früher zu erkennen und bauliche Massnahmen zu ergreifen?
Die Verkehrsverbindungen im Alpenraum sind seit jeher den Naturgefahren ausgesetzt. Neben meteorologischen Einflüssen sind Erosionsprozesse wichtige Auslöser dieser Gefahren. Die oberste Priorität besteht darin, die Sicherheit für die Verkehrsteilnehmenden zu gewährleisten. Dieses Ziel kann auf verschiedene Arten erreicht werden: Einerseits durch organisatorische Massnahmen, wie beispielsweise einer vorsorglichen Sperrung bei Lawinen- oder Steinschlaggefahr. Andererseits durch verschiedene bauliche Massnahmen, die die Sicherheit der Verkehrsteilnehmenden erhöhen, wie beispielsweise Steinschlagschutznetze, Schutzdämme, Galerien und Tunnels. Welche Kombination von Massnahmen wo sinnvoll ist, muss immer am konkreten Fall erarbeitet werden. Eine 100-prozentige Sicherheit vor Naturgefahren wird es jedoch nie geben, trotz aller technischen Entwicklung und wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn.
Der Ausweichverkehr entlang der A13 hat vermehrt auch Auswirkungen auf den Güter- und Gewerbeverkehr. Was unternimmt der Kanton dagegen?
Die neuralgischen Tage mit einem überdurchschnittlichen Verkehrsaufkommen auf der A13 haben in den vergangenen Jahren zugenommen. Der Ausbau des Abschnittes Reichenau – Rothenbrunnen auf vier Spuren ist im STEP dem «weiteren Realisierungshorizont» zugewiesen. Projekte dieser Kategorie werden vom Bund zwar langfristig als notwendig, im Vergleich zu anderen Nationalstrassenprojekten jedoch als weniger prioritär erachtet. Die Regierung wird sich im Rahmen des nächsten STEP-Ausbauschritts dafür einsetzen, dass das Projekt einem definitiven Zeithorizont zugewiesen und realisiert wird. Dabei ist es wichtig, unsere Interessen zusammen mit jenen der anderen Ostschweizer Kantone zu bündeln, um so mit gemeinsamer Kraft sich in Bundesbern einzusetzen.
Welche Lösungen sieht der Kanton bis dann vor?
Das Bundesamt für Strassen (ASTRA) plant eine Pannenstreifenumnutzung im Abschnitt von Landquart bis Sargans sowie ein Projekt zur Geschwindigkeitsharmonisierung und Gefahrenwarnung zwischen Thusis und Sargans. Beide Projekte tragen zur Erhöhung der Kapazität und des Verkehrsflusses bei.
Ist der Durchgangsverkehr nach Süden schuld an den Staus?
Nicht nur, interessant ist eine Erkenntnis aus den Verkehrsmessungen: Von denjenigen Fahrzeugen, die bei Bad Ragaz in den Kanton Graubünden einfahren, passieren nur rund 40 Prozent den San-Bernardino-Tunnel. Die übrigen 60 Prozent verbleiben entweder im Kanton Graubünden oder reisen über andere Passstrassen in benachbarte Kantone oder das Ausland. Der Durchreiseverkehr auf der A13 macht also weniger als die Hälfte aus.
Mit welchen Herausforderungen ist der öffentliche Verkehr in Graubünden konfrontiert und welche Lösungsansätze hat der Kanton im Blick?
Der attraktive öffentliche Verkehr im Kanton Graubünden leistet einen wichtigen Beitrag zur Standortattraktivität unseres Kantons. Die wachsende Mobilität, die letztlich Ausdruck eines aktiven Wirtschaftslebens ist, ist auch im öffentlichen Verkehr eine Herausforderung. Dabei sind wir mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert wie Kazitätsproblemen, der Finanzierung des Systems in Zeiten von Sparprogrammen auf Bundesebene und dem Fachkräftemangel. Beispielsweise bedeutet das mehrheitlich einspurige Netz der Rhätischen Bahn eine nicht zu unterschätzende Einschränkung, wenn es um den Ausbau des Angebots oder mehr Flexibilität im Zugsverkehr geht.
Über welche strategischen Grundlagen verfügt der Kanton im Bereich der Verkehrsinfrastruktur? Nach welchen Kriterien werden die Ausbauten priorisiert?
Die strategische Grundlage für die Weiterentwicklung der Strasseninfrastruktur, die notabene auch wichtig für das weitverzweigte Bus- und Postautonetz ist, bildet das Strassenbauprogramm. Dieses wird alle vier Jahre von der Regierung genehmigt und vom Grossen Rat zur Kenntnis genommen. Darin werden die Ausbau-, aber auch die Umfahrungs- und Grossprojekte erfasst. Wichtig ist, sicherzustellen, dass auch der Betrieb der Ausbauten langfristig finanziert werden kann. Es darf nicht passieren, dass teure Ausbauprojekte zulasten der Werterhaltung der bestehenden Substanz realisiert werden und die Finanzierung derer den nachfolgenden Generationen aufgebürdet wird.
Die Einsprachen nehmen auch beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur laufend zu. Gewisse Umfahrungsprojekte sind aufgrund dessen bereits seit Jahrzehnten in der Planungsphase. Wie können solche Projekte künftig noch realisiert werden?
Neue, grosse Infrastrukturen müssen sich heute in eine meist schon stark verbaute Umwelt und einen intensiv genutzten Raum einfügen. Dies erhöht die Anforderungen an Neubauprojekte, die in der Planung und Realisierung viele unterschiedliche, teilweise sich widersprechende Interessen berücksichtigen müssen. Die grosse Herausforderung besteht darin, ein Projekt zu erarbeiten, das alles unter einen Hut bringt, so dass es zu einer mehrheits- und tragfähigen Lösung kommt. Das Ziel, diesen Konsens zu erreichen, führt dazu, dass die Erarbeitung der Projekte viel Zeit in Anspruch nimmt. Und dennoch werden im Rahmen des Genehmigungsverfahrens oft rechtliche Möglichkeiten ergriffen.
Braucht es künftig auch beschleunigte Verfahren im Bereich der Verkehrsinfrastruktur analog den Verfahren für Anlagen für Energieproduktionsanlagen?
Das denke ich nicht. Ganz allgemein können wir feststellen, dass die Erschliessung unseres Kantons mit Kantonsstrassen und deren Zustand sich auf einem hohen Niveau befinden. Das Strassengesetz des Kantons Graubünden kennt bereits heute das Instrument des vereinfachten und somit beschleunigten Verfahrens, allerdings nur für Projekte, die sich nicht erheblich auf Raum und Umwelt auswirken. Ausserdem kann der Kanton Schutzanlagen ausserhalb des Strassengrundstücks bei unmittelbar drohender Gefahr ohne Projektauflage erstellen. Komplexe Grossprojekte erfordern aufgrund der gestiegenen Anforderungen Geduld. Deshalb müssen die verfügbaren Mittel durch eine kluge Prioritätensetzung bedarfs- und zukunftsgerichtet eingesetzt werden.
Die Mobilität wird sich aufgrund von technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen verändern. Wie stellt der Kanton sicher, dass die peripheren Regionen nicht den Anschluss verlieren?
Der Kanton verfolgt die Entwicklungen intensiv und beobachtet, wie sich diese auf unser Mobilitätssystem auswirken könnten. Ich bin überzeugt, dass die Entwicklungen, klug genutzt, auch eine Chance für die peripheren Regionen bedeuten können. Wichtig ist, dass wir Mobilität zunehmend integral denken, also Zug, motorisierter Individualverkehr, Rufbus oder Mietvelo als Netzwerk nutzen, und nicht als voneinander getrennte Systeme verstehen. Um diese Möglichkeiten auszuloten, testen wir auch neue Technologien und Mobilitätsformen in der praktischen Anwendung und im täglichen Einsatz beispielsweise «On-demand-Angebote» im ÖV, welche nur bei entsprechender Nachfrage fahren.