«Die eigenen Ressourcen stärken, ist die beste Prävention»
01.06.2023
Interview mit Rahul Gupta, Direktor Erwachsenenpsychiatrie
Jede zweite Person ist in ihrem Leben einmal von einer psychischen Krankheit betroffen. Dabei spielen neben der Persönlichkeit das private sowie das berufliche Umfeld eine wichtige Rolle. Angesichts der guten Wirtschaftslage mit einer hohen Arbeitslast im Zusammenhang mit dem Arbeitskräftemangel steigt das Risiko von krankheitsbedingten Ausfällen aufgrund einer zu hohen psychischen Belastung.
Zum Thema psychische Gesundheit in der Arbeitswelt hat das «Bündner Gewerbe» mit Rahul Gupta, Ärztlicher Direktor der Erwachsenenpsychiatrie der Psychiatrischen Dienste Graubünden (PDGR), bei einem Besuch in der Klinik Beverin gesprochen. Gemäss ihm sind Unternehmer/innen noch immer stark von einer psychischen Überbelastung – auch Burnout genannt – betroffen. Burnouts stehen in einem engen Zusammenhang mit Depressionen und sind inzwischen auf allen Hierarchiestufen anzutreffen, obwohl Menschen mit viel Verantwortung und Kopfarbeit mehr davon betroffen seien. Es gibt gemäss Gupta aber auch einfache Präventionsmassnahmen, um einer drohenden Überbelastung entgegenzuwirken.
Wie beschreiben Sie als Psychiater Stress?
Stress entsteht bei einem Ungleichgewicht zwischen den Anforderungen und Belastungen im Leben und den persönlichen Ressourcen, die einem Menschen zur Verfügung stehen, diesen zu begegnen. Psychisch gesunde Menschen können dieses Ungleichgewicht selber regulieren. Stress als körperliche und seelische Reaktion ist weder gut noch schlecht, sondern ein biologischer Mechanismus. Wichtig ist, dass jeder Mensch sich neben stressigen Situationen auch erholen kann. Es ist wie beim Sport – die Regenerationsphase ist ebenso wichtig wie die Leistungsphase.
Belastungen und Stress gehören zum Leben. Wann macht Stress krank?
Stress kippt ins Negative, wenn der Druck als zu hoch empfunden wird, wenn der Stress überhandnimmt und man im Hamsterrad gefangen ist. Belastend ist ebenfalls, wenn den Anforderungen nicht mehr standgehalten werden kann oder wenn die eigenen Ansprüche zu hoch sind. Jeder Mensch empfindet den Druck, der auf ihn einwirkt, anders. Stress ist daher eine persönliche Empfindung. Die Persönlichkeit ist zentral bei psychischen Krankheiten, so auch beim Burnout. Aber auch das Umfeld prägt diese Empfindung. Unsicherheiten und Überforderungen fördern ein stressiges Umfeld. Vertrauen und Sicherheit bringen Ruhe.
Welche Personen sind besonders gefährdet, an Burnout zu erkranken?
Insbesondere Führungskräfte mit einem starken Ehrgeiz, Kontrollbedürfnis, einer Selbstüberschätzung oder mit einem geringen Selbstwertgefühl sind eher gefährdet, in eine Burnout-Spirale zu geraten. Je höher das Bildungsniveau und die Verantwortung ist, desto höher die Gefährdung. Es gibt auch 60-Jährige, die «ausbrennen» und vorher nie mit psychischen Problemen zu kämpfen hatten. Wenn zu viel zusammenkommt, kann es jeden treffen, vor allem wenn der Boden unter den Füssen weggezogen wird. Einige sind in einer solchen Situation so überlastet, dass sie eine stationäre Behandlung brauchen. In die Psychiatrie kommt aber nur die Spitze des Eisbergs. Andere Personen benötigen in dieser Situation nur eine ambulante Behandlung und wiederum andere haben eigene Ressourcen, um mit der Situation fertig zu werden.
Welcher Einfluss hat der Arbeitgeber auf die psychische Gesundheit seiner Mitarbeitenden?
Belastende Umstände in einem Betrieb können dazu führen, dass die Mitarbeitenden dauerhaft unter Druck stehen und auch deswegen krank werden. Das Arbeitsumfeld ist aber immer nur ein Faktor bei einer physischen Krankheit. Ein Arbeitgeber ist nicht «schuld» an der Krankheit seiner Mitarbeitenden. Wenn viel Misstrauen und Angst in einem Betrieb vorherrschen, bei gleichzeitig hohem Erwartungsdruck und hoher Arbeitsbelastung, dann reden wir von einer «toxischen Unternehmenskultur». In einem solchen Betrieb ist die Gefahr grösser, psychisch zu erkranken. Auch wenn eine solche Kultur die Produktivität für eine gewisse Zeit erhöhen kann, langfristig schadet sie dem Unternehmen in der heutigen Arbeitswelt.
Wie kann ich als Führungsperson dazu beitragen, dass Mitarbeitende nicht psychisch krank werden?
Wichtig ist, dass die Mitarbeitenden ihre Arbeitslast und ihre Aufgaben bis zu einem gewissen Teil selber mitbestimmen können. Flexible Arbeitszeitmodelle können unterstützend wirken. Selbstwirksamkeit hilft bei der Regulierung von Stress. Ohnmacht treibt den Stress noch weiter an. Verständnis und Wertschätzung sowie eine individuelle Führung der Mitarbeitenden sind die beste Prävention vonseiten der Führungspersonen. Jeder Mensch ist nun mal anders. Währendem ein Mitarbeiter an seine Belastungsgrenze stösst, läuft ein anderer Mitarbeiter in der gleichen Situation zur Höchstform auf. Wichtig ist auch, dass es neben Belastungsspitzen auch ruhigere Phasen gibt, wo man sich «erholen» kann. Gerade für Führungspersonen und Unternehmer ist es wichtig, dass sie in ihrer Arbeit auch Ruhepole haben.
Welche Anzeichen können Alarmsignale sein?
Jemand, der immer stiller wird, Aufgaben nicht mehr erledigt, obwohl er sonst zuverlässig ist – das kann ein Alarmzeichen sein. Es gibt auch Menschen, die in die Hyperaktivität verfallen und immer mehr Aufgaben an sich reissen. Menschen, die das Gefühl haben, dass sie unverzichtbar sind und keine Hilfe annehmen wollen, sollte man vorsichtig darauf ansprechen.
Wie sollte das Umfeld in einer solchen Situation reagieren?
Es ist wichtig, psychische Probleme bei Menschen frühzeitig zu erkennen und darInterview mit Rahul Gupta, Direktor Erwachsenenpsychiatrie «Die eigenen Ressourcen stärken, ist die beste Prävention» Bündner Gewerbe 2/2023 Im Brennpunkt | 7 auf zu reagieren. Denn je länger man zuwartet, desto schlimmer werden die Probleme. Man sollte die betroffene Person behutsam und wohlwollend darauf ansprechen. Zudem gibt es Erste-Hilfe-Kurse für psychische Gesundheit unter www.ensa. swiss, die wir für Betriebe und Einzelpersonen empfehlen. Ich erhoffe mir, dass solche Kurse bald alltäglich werden, wie die Erste-Hilfe-Kurse für Unfälle. Ebenfalls kann man sich an den Hausarzt oder eine andere medizinische oder psychologische Fachperson wenden. Dies gilt übrigens auch für die betroffenen Personen selber.
Die Zahlen zeigen es – psychische Erkrankungen nehmen stark zu. Auf was führen Sie diese Zunahme zurück?
Die Arbeit hat sich von körperlicher Arbeit zu mehr Kopfarbeit verändert und diese Tendenz wird sich weiter verstärken. Es ist eine Tatsache, dass Personen, welche wenig körperlich arbeiten und sich wenig bewegen, eine grössere Gefährdung haben, an Burnout zu erkranken. Früher hatte man wegen der Arbeit körperliche Beschwerden, heute hat man mehr psychische Beschwerden. Es ist aber auch so, dass das psychische Wohlbefinden heute eine grössere Rolle spielt. Den psychischen Erkrankungen wird mehr Beachtung geschenkt. In den Fabriken hat es früher niemanden interessiert, wie es den Arbeitern wirklich ging, denn sie waren schnell ersetzbar. Heute hat der Mensch in der Arbeitswelt mehr Wert und das Ziel ist, ihn langfristig zu behalten, weil sonst viel Know-how verloren geht.
Vielfach hört man, dass die heutigen Jugendlichen verweichlicht seien und sie nicht mehr lernen, mit Widerstand und Überlastung umzugehen. Sehen Sie hier Veränderungen zwischen den Generationen?
Die ältere Generation hat den Eindruck, dass die heutige junge Generation nicht mehr so belastbar sei wie früher. Aus fachlicher Sicht kann ich dies nicht bestätigen. Es haben sich vor allem die Werte und Prioritäten im Leben verschoben. Die Arbeitswelt hat sich in den letzten 30 Jahren stark verändert, sie ist schnelllebiger geworden und die Unsicherheiten haben zugenommen. Die Workaholics unserer Generation sind keine Vorbilder für die Jungen von heute. Die heutige Generation ist zwar leistungsorientiert, sie fordert aber auch mehr Freizeit und Erholung ein. Die Work-Life-Balance ist ihnen wichtig. Eigentlich leben sie genau das vor, was die ältere Generation insgeheim auch wollte, es aber nicht umsetzen konnte.
Was sollten Unternehmen betreffend der psychischen Gesundheit im Betrieb beachten?
Wichtig ist, dass das Thema in der Geschäftsleitung thematisiert wird und dass die Betriebe merken, dass krankheitsbedingte Arbeitsausfälle ein Kostenfaktor sind. Kann bei einer drohenden Überlastung frühzeitig interveniert werden und der Mitarbeitende seiner Arbeit weiter nachgehen, ist es für alle am besten. Wenn ein krankheitsbedingter Arbeitsausfall eintritt, sollte man die Wiedereingliederung möglichst rasch angehen. Sensibilisierung und Prävention sind für mich zentral. Ich kann Ihnen das gerne an einem Beispiel erklären. Ein grösseres Unternehmen aus der Baubranche ist auf uns zugekommen, weil sie vermehrt krankheitsbedingte Absenzen hatten. Ein erster Schritt für die Sensibilisierung war eine Umfrage bei den Mitarbeitenden. Das ist ein Fragebogen mit neun Fragen – sozusagen ein Fitnesscheck für psychische Gesundheit. So kann das Thema psychische Gesundheit mit wenig Aufwand in einem Betrieb angesprochen werden. Im Rahmen eines betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) können dann weitere Massnahmen umgesetzt werden (mehr zum Thema BGM auf Seite 17).
Was empfehlen Sie zur Prävention für jeden Einzelnen?
Die beste Prävention ist, die eigenen Ressourcen zu stärken. Es ist wie beim Sport – man kann die Psyche so trainieren, dass man belastbarer wird und den Stress besser abbauen kann. Jeder muss seinen eigenen Weg finden, dies zu tun. Bewegung und Sport, soziale Interaktion oder Musik können helfen. Auch Entspannungsübungen wie Yoga und Meditation sind gute Präventionsmassnahmen. Das, was den Patienten gut tut, wird auch in der Therapie für akut Betroffene bei uns in der Psychiatrie angewendet. Wichtig ist – gerade auch für Führungspersonen –, dass sie Zeitfenster definieren, wo sie sich für etwas Zeit nehmen, was nichts mit der Arbeit zu tun hat. Die Psyche ist wie ein Motor. Man muss den Motor regelmässig abkühlen. Der Motor braucht aber auch Sprit zum Laufen – das heisst gute Ernährung, Wertschätzung, ein soziales Umfeld – alles, was uns antreibt. Der Motor braucht auch einen Auspuff – ein Ventil, wo er mal abladen kann. Zudem braucht er Schmiere, dass er läuft – das zwischenmenschliche Vertrauen. Wenn aber ein Unfall passiert, nützt der bestens gewartete Motor nichts. So ist es auch mit der Psyche.
Bild: Rahul Gupta, Ärztlicher Direktor der Erwachsenenpsychiatrie, und Maurus Blumenthal, Direktor BGV
Erste-Hilfe-Kurse für psychische Gesundheit
Wie kann man einen Mitarbeitenden oder Arbeitskollegen unterstützen, wenn er psychische Probleme hat? Die ensa Erste-Hilfe-Kurse versetzen Laien in die Lage, auf Betroffene mit psychischen Schwierigkeiten zuzugehen und erste Hilfe zu leisten. Es gibt auch Kurse für Führungskräfte und Berufsbildner, online und in Chur. Weitere Informationen: www.ensa.swiss